aus der Reihe: Gottscheer Flüchtlingsschicksale

Als Sechzehnjähriger in Sterntal

von William Meditz,
?,
Middle Village, N.Y.

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Der Weg ins Ungewisse begann in Rann; als einer der Volks­sturm-Jugendgruppe begleitete ich den Treck der Gottscheer Flüchtlinge. Langsam ging es, die Autokolonnen der Wehrmacht hatten Vorrang. In Lichtenwald verließ ich den Treck, bestieg mit der Familie den Zug, aber nur bis Cilli: Gleise gesprengt! Tagelanger Aufenthalt, dann Marburg. Hier die Draubrücke gesprengt, warten, und Partisanen, mehr und mehr. Dann der Befehl: Die Waggons verlassen, nur das Nötigste nehmen, vor den Waggons warten, eine lange Kolonne aus diesen 20 Waggons. Dann kam langsam Bewegung. Bald hörte ich schreien: Da stand eine Partisanengruppe, die die Koffer durchwühlte, alles, was wertvoll schien, wurde genommen. Und die Familien wurden zer­rissen, so schnell – daß niemand Zeit hatte, Lebewohl zu sagen, für viele ein Lebewohl für immer. Und der wunderschöne Maitag!

Die Frauen und Kinder wurden weitertransportiert, auch die Männer. Ungefähr 20 blieben wir auf dem Bahnhofe zurück, darunter sechs Burschen unter 18 Jahren. Unter Bewachung hatten wir die „beschlagnahmten“ Sachen auf Autos zu verladen. Am nächsten Tage wurden wir zur Männergruppe gebracht, mußten 20er Gruppen bilden und kamen in einen Hof; hier hatten wir außer Eßlöffel, Kamm und Zigaretten alles vor uns hinzulegen. Als es Nacht wurde, kamen wir auf Lastwagen; auf unserem war auch Pfarrer Wittine. Und, es war der 19. Mai 1945, wir kamen nach Sterntal. 20-30 Mann kamen in ein Barackenzimmer, drin­nen ein Tisch, Bänke, Mehrstockbetten mit Strohsäcken. Vor uns waren Kriegsgefangene der Alliierten hier, die in der nahen Aluminiumfabrik arbeiteten. Stacheldraht herum, die einzelnen Komplexe wieder mit Stacheldraht umgeben. In einem solchen Komplex, die Baracke Nr. 6, die „Gottscheer-Baracke“.

Nach dem Frühstück wurden wir kahl geschoren, der letzten Habseligkeiten „befreit“, es blieb uns nur das, was wir am Leibe hatten, Küchendienst für die einen, Aufräumungsarbeiten in der Alufabrik für die anderen. Und in der Nacht Wanzen und Läuse, unsere treuen Genossen für die nächsten Monate.

Am 1. Juli kam ich zur „Gottscheer-Baracke“: Zimmer sechs, in jedem ungefähr 40 Mann. Innerhalb dieses Komplexes waren noch fünf andere Baracken, in denen waren Untersteirer untergebracht, alle, wie wir, streng bewacht. Jedes Zimmer hatte einen Zimmerältesten und jede Baracke einen Kommandanten, der den Partisanen Meldung zu erstatten hatte. In der Wache befand sich ein vielleicht zwölfjähriger Partisan, das Gewehr war größer als er, meist ritt er auf einem Pferd und alle 240 der Baracke fürchteten ihn.

Wegen des Ungeziefers mußten wir öfters in die Entlausungsbaracke, dabei verlor einmal der, dann ein anderer einen Teil sei­ner Kleidung, rückerstattet wurde ihm dann meist ein Fetzen, ein wertloses Ding; ich erhielt eines Tages für meine neuen Schuhe und den guten grauen Anzug zwei Stiefel verschiedener Größe, eine Hose und einen zerrissenen Rock.

Der Tagesablauf in Stern­tal (vorerst):
Um 5 Uhr Wecken und sofort in Viererreihen vor der Baracke antreten (der letzte hatte schon die Faust der Wache zu spüren). Unser Barackenkommandant, der Fleischermeister Alois Hönigmann aus der Stadt Gottschee, setzte sich immer für uns ein, wurde dafür auch oft geschlagen oder erhielt Bunker. Dann er­zwungener Sport, Singen, gegenseitiges Boxen. Schnell wa­schen, im Gleichschritt zur Küche: eine halbe Scheibe Brot und ungesalzenes Bohnenwasser; wer Glück hatte, erwischte einige Bohnen. Auf dem Weg zur Fabrik gesungen, gegen Mittag zurück und wieder das Frühstück als Mittagessen. Die älteren Männer konnten die harten Erbsen kaum kauen, wir klaubten sie zusam­men, steckten sie in die Hosentaschen und kauten über den Nachmittag daran. Zu Mittag gab es sie wieder, die Erbsen, hie und da ein Stück Pferdefleisch. Dann wieder zur Fabrik, wieder Arbeit, wieder zurück und das Frühstück zum Abendessen.

Dann hatte man Ruhe vor den Partisanen, konnten uns lausen, aber es half kaum. Um Mitternacht kamen die Wächter, meist betrunken, ins Lager, da hieß es, so schnell als möglich vor der Baracke angetreten zu stehen; es kam dann sowieso die übliche Schikane: Turnen, einander schlagen, und die Wächter schlugen mit. Glücklich war, wer zu einer Spezialarbeit abkommandiert wurde; außerhalb des Lagers konnte man rohes Gemüse erwischen, in der Küche Abfälle. Wie gut war es, an einem Knochen zu nagen und auch Gras aßen wir. Hunger, Hunger! Essen war auch unser Gespräch in der unbeaufsichtigten Zeit, oh, Khraipn af’n Gantzelain! Ans Sterben dachten wir nie! Von Zeit zu Zeit kamen kleinere Gruppen von Gottscheern zu uns – sie waren außerhalb des Komplexes untergebracht. Ein Teil dieser Gruppe bekam neben der „Sechser“ ihr Quartier zugewiesen. Auch meine Schwester war darunter, so ein Glück! Sie steckte mir hie und da ein Stückchen Brot zu, das sie von irgendwo erhalten hatte. Wir erfuhren so auch, daß die Gottscheer aus Marburg in die Steiermark transportiert worden waren und daß auch das Rote Kreuz von den schrecklichen Zuständen in Sterntal – besser „Sterbetal“ wußte; das gab uns neue Hoffnung!

Und der „Lageralltag“:
Insassen versuchten zu fliehen, wurden aber meist wieder gefangen. Dann wurden sie in Ketten gelegt, mit Schildern behängt: „Ich bin ein Verräter“ durchs Lager geführt, dann für sechs Tage in den Bunker gesperrt und immer wieder geschlagen. Der Bunker: Ein Loch in der Erde, kein Essen, immer wieder Prügel – wer das erlebt hat, vergißt es nicht. Und das Ungeziefer, der Hunger, die Ungewißheit, viele erkrankten, kamen mit Durchfall, hohem Fieber in die Krankenabteilung, aber keine ärztliche Behandlung, so kam keiner zurück. Ende August erhielt man für offene Wunden, die viele an den Füßen hatten, Zinksalbe und Verbandsstoff, das war jedoch ein Nest für die Läuse; so legte man den Verband lieber gar nicht an.

Nach dem 15. August 1945 wurde das Essen besser, man erhielt mehr Brot, die Zwangsarbeit wurde eingestellt und man durfte frei im Lager herumgehen; im September begann die Entlassung der Gottscheer. Aber, die Männer der Sechserbaracke waren so unterernährt, daß sie keinen Widerstand mehr besaßen. Ich selbst kam am 24. September in die Freiheit, ein Datum, das ich nie ver­gessen werde. Mit dem Familientransport kam ich über Ungarn nach Wien, die anderen Gruppen gelangten über Laibach nach Klagenfurt.

Auf dem Bahnhof wurden wir auf offene Waggons verladen, Familien mit Kindern kamen in geschlossene. Es wurde dunkel und es begann zu regnen. Ich war in zerrissenen Kleidern, es wurde kalt und ich naß. Jemand ließ mich zu sich unter die Decke kriechen. Vor der ungarischen Grenze blieb der Zug stehen, wir mußten aussteigen und zum Bahnhof gehen; es war nicht weit dorthin. In einem ausgebombten Gebäude ließen wir uns nieder, ich der einzige aus der „Sechser“, verlaust und verdreckt, hielt mich abseits, schlief aber so gut, daß ich am Vormittag – allein war! Ich ging zum Bahnhof, verlassen, allein in Ungarn, ein abge­magertes sechzehnjähriges Nichts. Leute, die auf dem Bahnhof warteten, lachten über mein Erscheinen. Ein Bahnbeamter wußte um die Situation: „Du, halbe Stunde, Zug kommen (er deutete mit der Hand) nachfahren!“ Ja, so war es, ein Schnellzug nahm mich mit und nach kurzer Fahrt waren wir in einer großen Bahnstation. Da waren sie auch, meine Gottscheer Leidensgenos­sen, wieder auf offenen Waggons. Ich stieg aus und ging zu ihnen, glücklich über die Fügung. Ja, damals, der Mensch hatte keinen Wert, eine Kugel, oder auf irgendeinem Transport mit, damit die Zahl stimmte. Und ich wäre unter der Rubrik „Vermißt“ zu zählen …

Wir kamen durch verschiedene Orte, hatten verschiedene Haltestationen und kamen dann nach Wien, in ein Lager. Ein Nachbar von daheim war hier, er erzählte mir von meinen Angehörigen und verhalf mir, nach vielleicht zehn Tagen im Lager, daß ich mit einem Transport in die Steiermark kam. Ein frohes Wiedersehen. Mein Sterntaler Wunsch, als erstes Essen in der Freiheit „Khraipm“ und Sterz vorgesetzt zu bekommen, ging vorerst nicht in Erfüllung, die Mutter hatte es eben nicht. Und dann, nach drei Tagen schüttelte mich hohes Fieber. Ich kam ins Krankenhaus: Flecktyphus! Nach fünf Wochen hatte ich es überstanden, ich wurde entlassen.

Nun sollte, fern der lieben Heimat, ein neues Leben beginnen!

Quellenangaben:

1330 – 1941  Gottschee
Die ehemalige deutsche Sprachinsel
Heft 4 und 5

Bearbeitet von:
Wilhelm Lampeter und Ludwig Kren
Herausgeber:
Gottscheer Landsmannschaft in Deutschland

Weilheim 1994